Das Ziel von Natalie Rosenke: die Gleichwertigkeit aller Körper als Grundgedanken verankern
Foto: Ralf Lutter Teilen Twittern SendenVon: Anja Opitz 11.09.2022 – 16:14 Uhr
Dicke Kuh. Fetter Arsch. Isst bestimmt nur Pommes. Hat halt keine Ahnung von gesunder Ernährung. Selbst schuld, wenn sie krank wird, bei dem Gewicht. Einfach mal abnehmen! Ach, würde sie doch eh nie durchhalten …
Berlin – Mit hämischen und herabwürdigenden Kommentaren dieser Art wird Natalie Rosenke (45) täglich konfrontiert. Und will sich damit nicht abfinden.
78 Prozent der deutschen Bevölkerung haben Vorurteile gegenüber dicken Menschen, 15 Prozent meiden sogar den Umgang mit ihnen. Diese negativen Einstellungen sind der Boden, auf dem Gewichtsdiskriminierung zum traurigen Alltag wird, der zu Mobbing und Ausgrenzung führt, schon im Kindergarten.
BILD sprach darüber mit der Vorsitzenden der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.
BILD: Frau Rosenke, wann haben Sie zum ersten Mal gehört: „Du bist fett“?
Natalie Rosenke: „Mir haben die anderen Kinder im Kindergarten den Spruch „dicke fette Arschbulette“ mitgegeben. Ab dem Punkt war klar: Ich bin anders. So einen Knackpunkt gibt es in den meisten Biografien von dicken Menschen.“
Was macht es mit einem Kind, wenn es diese Stigmatisierung erfährt?
Rosenke: „Dazu gab es in Deutschland eine Untersuchung. Eine Erkenntnis war: Die Träume dieser Kinder ändern sich. Sie träumen nicht mehr davon, Rockstar oder Astronaut zu werden, weil solche Träume mit einer hohen Sichtbarkeit verbunden sind. Sie sehnen sich nach Unsichtbarkeit, denn das Dicksein macht sie in ihrem eigenen Empfinden immer übersichtbar und ist immer Thema.“
Was würden solche Kinder später gern sein?
Rosenke: „Eher Köchin oder Pfleger. Aus der Erfahrung, schlecht behandelt zu werden, ist ihr Gedanke: Wenn ich anderen etwas Gutes tue, warum sollten sie mir dann etwas Böses wollen?“
Inwiefern wird aus der Stigmatisierung schon bei Kindern Diskriminierung?
Rosenke: „Studien belegen, dass dicke Kinder schlechter benotet werden – damit werden ihre Chancen schon im Schulalter beschnitten.“
Wo setzt sich diese Diskriminierung fort?
Rosenke: „Beispielsweise im Arbeitsbereich: Zum Bewerbungsgespräch werden dicke Menschen aufgrund des Bewerbungsfotos oft nicht eingeladen. Bei der Entlohnung dicker Frauen zeigt sich ein deutlicher Weight Pay Gap, d. h. sie verdienen weniger als ihre dünnen Kolleginnen.“
Die Künstlerin Veronika Merklein hat dieses Motiv für die 8. Internationale Weight Stigma Conference entwickelt. Der Slogan stammt von Natalie Rosenke
Foto: Kati Bruder
Kann man sich gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz nicht wehren?
Rosenke: „Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ermöglicht allen im Gesetz genannten Gruppen, sich gegen Diskriminierung im Arbeitsbereich rechtlich zur Wehr zu setzen. Diskriminierung anhand von Körpergewicht wird vom Gesetz bisher nicht abgedeckt.“
Woher kommen die Vorurteile gegenüber dicken Menschen?
Rosenke: „Wir wachsen mit ihnen auf: Diätindustrie, Fitnessindustrie, Gesundheitsindustrie, Schönheitsindustrie – sie alle haben ein profitgesteuertes Interesse daran, Produkte zu vermarkten, die den schlanken Körper zum Ziel haben, der in unserer Gesellschaft als Ideal gilt.“
Aber wie entsteht dieses Ideal?
Rosenke: „Der dicke Körper wird überall als mangelhaft, falsch, eklig, zu verändern markiert, verbunden mit negativen Begriffen wie Maßlosigkeit, Charakterschwäche, Disziplinlosigkeit, Selbstverschulden, Bildungsdefizit. Schon in Kinderbüchern.“
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Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Rosenke: „Das Buch „Tom wird dick“, empfohlen ab 4 Jahre: Tom mag Marmeladenbrote mit Honig und wird deshalb – selbst schuld, so vermittelt es das Buch – dick. Plötzlich ist Tom nicht mehr Tom, sein Körper wird als Kreis dargestellt. Er wird wie ein Fußball einen Hügel runter getreten. Unkommentierte Gewalt, offenbar völlig okay. Dann kommt ein Krokodil als Fitnesstrainer hinzu und lässt ihn Liegestütze machen. Sport nicht als Freude an Bewegung, sondern nur mit dem Ziel abzunehmen. Fast zwei Tage isst Tom dabei nichts. Wir sehen ihn also bei einer Crashdiät mit Mustern einer Essstörung. Entscheidend ist allein, dass er am Ende schlank ist.“
Und abnehmen ist falsch?
Rosenke: „Körper ist Privatsache. Was für einen Menschen richtig oder falsch ist, habe ich nicht zu beurteilen. Bemerkenswert ist allerdings, dass wir überhaupt nicht davon ausgehen, dass es eine Gewichtsvielfalt gibt. Der Grundgedanke ist: Jeder Mensch kann dünn sein – und wer nicht dünn ist, hat sich nicht drum gekümmert. Dünnsein ist zu einer gesellschaftlich geforderten Leistung geworden, die extrem viel Druck auslöst.“
Die Weltgesundheitsorganisation hat Übergewicht 1997 als Epidemie eingestuft. Wie hat das die Debatte beeinflusst?
Rosenke: „Allein der Begriff Epidemie hat dazu geführt, das Stigma zu verstärken und Menschen mit hohem Gewicht noch weiter abzuwerten. Es wurde markiert als etwas, womit man sich anstecken kann, als Gefahr für alle.“
Bin ich dick, bin ich also falsch, sogar gefährlich. Was macht die Stigmatisierung mit übergewichtigen Menschen?
Rosenke: „Mit einem Stigma geht das belastende innere Bewusstsein einher, unerwünscht zu sein. Es drängt Menschen in die gesellschaftliche Isolation, führt zu Einsamkeit. Und weil das Stigma „dicker Körper“ nicht versteckt werden kann, macht die Diskriminierung keine Pause, sie ist als Stressfaktor immer vorhanden.“
Mit Aktionen wie „XL im Sack“ macht die Gesellschaft für Gewichtsdiskriminierung auf Missstände aufmerksam
Foto: .
Inwiefern ist die Reduzierung von „gesund sein“ auf „schlank sein“ gesundheitsgefährdend?
Rosenke: „Wenn hochgewichtige Menschen wegen Beschwerden in die Praxis kommen, werden sie oft pauschal aufgefordert abzunehmen – dann würden auch die Beschwerden verschwinden. Durch diese voreingenommene Betrachtung werden Krankheiten oft übersehen! Wer bei Schmerzen im Knie nur an das Gewicht denkt, übersieht den Bänderriss.“
Das muss extrem frustrierend sein.
Rosenke: „Ist es. Deshalb gehen dicke Menschen oft gar nicht oder später zu Vorsorgeuntersuchungen – einfach, weil sie sich davon für ihre Gesundheit in ihrem Körper nichts versprechen. Was wiederum gefährlich ist, weil Erkrankungen wie Krebs später erkannt werden, was die Heilungschancen verschlechtert.“
Welche Ziele hat die Gesellschaft gegen Diskriminierung?
Rosenke: „Wir wollen erreichen, dass der Begriff Gewicht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und in den Landesantidiskriminierungsgesetzen als Diskriminierungskategorie aufgenommen wird. Das würde einen rechtlichen Schutz vor Gewichtsdiskriminierung sicherstellen und es wäre der dringend nötige Impuls, Gewicht als Teil der menschlichen Vielfalt mitzudenken und in allen Formen wertzuschätzen. Denn das Recht auf Menschenwürde endet nicht mit hohem Gewicht!“
Was heißt Normal- und Übergewicht, was Adipositas?
Laut Robert-Koch-Institut sind in Deutschland 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig, ein Viertel aller Erwachsenen ist adipös. Eine Maßeinheit für die Einschätzung des Körpergewichts stellt der Body-Mass-Index, kurz BMI, dar. Der BMI ergibt sich aus dem Quotienten von Körpergewicht (in kg) und Körpergröße zum Quadrat (in m²).