Die deutschen Handballer gewinnen gegen Russland ihr letztes EM-Spiel. Insgesamt haben ihre Auftritte Hoffnung gemacht. Vor allem ein Spieler sticht hervor.
Jung und dynamisch. Julian Köster war aus deutscher Sicht die große Entdeckung der Europameisterschaft.Foto: dpa
Der erste Tross ist bereits wieder zu Hause. Schon vor ihrem letzten Spiel bei der Europameisterschaft in Bratislava, das für die deutsche Handball-Nationalmannschaft am Dienstagabend mit einem 30:29 (16:12)-Erfolg gegen Russland versöhnlich endete, hatte ein Großteil des Kaders die Heimreise angetreten. Darunter waren auch Julius Kühn und Kai Häfner, die maßgeblich die Vorrunde bestimmt hatten und zu wichtigen Säulen der neu zusammengestellten Mannschaft avancierten.
Doch das Corona-Virus hatte andere Pläne. Die beiden Spieler aus Melsungen erhielten ebenso wie 13 weitere Akteure in den vergangenen Tagen positive PCR-Tests ausgehändigt und mussten im Anschluss das in Ungarn und der Slowakei ausgetragene Turnier vom Fernseher aus verfolgen.
Was sie dort sahen? Zum einen war da weiter diese Mannschaft, die sich schon in der Vorrunde von Spiel zu Spiel steigern konnte. Eine Mannschaft, die zwar zu viele technische Fehler produzierte, letztlich aber durch Kampfgeist und Engagement einiges wieder gutmachen konnte. So zumindest gegen Belarus, Österreich und Polen.
In der Hauptrunde änderte sich das Bild. Mit insgesamt zehn Nachnominierten verfügte das Team zwar rein formell über mehr Erfahrung, war jedoch nicht eingespielt. In der Abwehr taten sich Lücken auf, die man so nicht von einer deutschen Formation gewohnt ist, im Angriff wurde der Ball zu leichtfertig hergegeben. Es waren Kleinigkeiten, die gegen den Titelverteidiger Spanien, gegen den EM-Dritten Norwegen und den Vizeweltmeister Schweden zum entscheidenden Faktor wurden, gleichzeitig aber wenig Zweifel an der aktuellen Lage des deutschen Handballs aufkommen ließen: Mit den Großen kann momentan nicht mitgehalten werden.
Deutschland muss sich keine Gedanken um neue Talente machen
Dennoch gibt es viele positive Aspekte. Zum einen, dass sich die DHB-Auswahl auch in der Hauptrunde stets steigerte. Es gelang Bundestrainer Alfred Gislason trotz der widrigen Bedingungen, zwei Abwehrsysteme zu etablieren und im Angriff für mehr Variabilität zu sorgen. Beim fehlerbesetzten Auftritt der Schweden reichte das sogar fast zu einem Sieg – auch weil die deutsche Mannschaft defensiv wieder zu ihrer Stärke gefunden hatte.
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Außerdem hat das Turnier gezeigt, dass sich Deutschland nach dem personellen Umbruch, unter anderem mit den Rücktritten von Steffen Weinhold, Uwe Gensheimer und Hendrik Pekeler, keine Gedanken um neue Talente machen muss. Da ist ein Lukas Zerbe, der auf Außen nicht nur kaltschnäuzig im Abschluss agiert, sondern genauso konsequent in der Abwehr kämpft. Da steht ein Till Klimpke im Tor, der sich nicht hinter den breiten Schultern von Andreas Wolff verstecken muss.
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Und dann ist da ein Julian Köster, der mit seinen 21 Jahren Handball-Deutschland begeistern konnte, weil er ohne Scheu immer wieder seine Chance suchte und nutzte. Weil er trotzdem noch den Nebenmann sah und fähig war, den Ball im entscheidenden Moment weiterzuspielen. Weil er sich durch seine Leistung in der Abwehr selbst komplettierte.
Der Vertrag mit Alfred Gislason wurde vor der Europameisterschaft langfristig verlängert.Foto: imago images/Kolektiff
Köster steht für das, was der Deutsche Handballbund als Konzept ausgibt
Köster, der im Alltag „die Zweite Liga in Grund und Boden spielt“, wie es Mannschaftskollege Timo Kastening ausdrückte, hat wohl die auffälligste Visitenkarte im Team der Deutschen hinterlassen und so manch einen Verein auf sich aufmerksam gemacht.
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Dabei besticht der Gummersbacher nicht nur durch seine Explosivität auf dem Feld, sondern ebenso durch seinen besonnenen Habitus abseits des Spielgeschehens. „Ich habe das Vertrauen der Mannschaft gespürt und konnte deswegen frei aufspielen“, sagte Köster nach einem seiner ersten Auftritte. „Das war aber schon crazy, wenn man in den Bus einsteigt und in so viele neue Gesichter sieht. Ein cooles Gefühl, die Leute mal live zu sehen, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kannte.“
Jetzt ist er derjenige, den die Zuschauer an den Empfangsgeräten bestaunen dürfen. Vielleicht bald auch in den wöchentlichen Übertragungen der Bundesliga, mit großer Sicherheit aber bei den nächsten Turnieren. Denn Köster steht genau für das, was der Deutsche Handballbund momentan als Konzept ausgibt: eine junge Mannschaft mit Potenzial, von der man sich in den kommenden Jahren wieder Titel erhofft.
Der Vertrag mit Alfred Gislason wurde vor der Europameisterschaft langfristig verlängert, um statt Erfolgsdruck Kontinuität zu vermitteln. Dafür wurde ein „Jahrzehnt des Handballs” ausgerufen, das den Fokus auf die Heim-EM im Jahr 2024 legt, aber auch auf die danach anstehenden Weltmeisterschaften der Männer und Frauen im eigenen Land. Insofern bleibt noch Zeit, um das Team weiterzuentwickeln. Zumindest der erste Schritt ist aber schon getan.