Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist in ihr EM-Quartier aus dem Vorjahr zurückgekehrt. Das soll die einzige Parallele zum vergangenen Sommer sein.
Große Geste. Von der EM 21 ist den Deutschen nur wenig positiv in Erinnerung geblieben. Am ehesten noch der Jubel von Leon…Foto: dpa
Lukas Klostermann hätte eigentlich jeden Grund gehabt, die Dienstreise ins Fränkische mit gemischten Gefühlen anzugehen. Seine Erinnerungen an Herzogenaurach und das vergangene Jahr sind jedenfalls keineswegs nur positive. Gut, es war eine EM und das erste große Turnier, an dem der Leipziger als Nationalspieler teilnehmen durfte. Aber für ihn war dieses Turnier noch ein bisschen früher beendet als für den Rest der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.
Lukas Klostermann ist am Montag trotzdem „mit einem positiven Gefühl“ nach Herzogenaurach gereist. „Grundsätzlich habe ich mich sehr gefreut“, erzählt er, „weil ich wusste, was mich hier erwartet. Es könnte nicht viel besser sein.“
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Vor einem Jahr, bei der EM, hätte einiges viel besser sein können. Für die Mannschaft, aber auch für Klostermann. Schon nach wenigen Tagen zog er sich einen Muskelfaserriss zu, danach war das Turnier für ihn beendet. Für seine Kollegen ging die Veranstaltung auch nur unwesentlich länger, auf jeden Fall nicht so lang, wie sie sich das erhofft hatten. Schon nach dem Achtelfinale und der 0:2-Niederlage gegen England war es vorbei.
Am Tag danach haben die Nationalspieler ihr Quartier auf dem Gelände ihres Ausrüsters Adidas geräumt, das so etwas wie die fränkische Antwort auf das legendenumkränzte Campo Bahia werden sollte. Am Montag, exakt 334 Tage nach ihrem Auszug, kehrte das Team nun an den Ort zurück, der zwar allerlei Annehmlichkeiten und viel Abwechslung jenseits der täglichen Arbeit bietet, der aber auch mit dem Scheitern bei der EM 2021 verbunden bleiben wird.
Der wichtigste Unterschied: Flick statt Löw
Vieles ist bei der Nationalmannschaft wie vor einem Jahr, selbst der Kader weist noch etliche Überschneidungen mit dem der Europameisterschaft des Sommers 2021 auf. Von den 26 Spielern, die Bundestrainer Hansi Flick für die vier anstehenden Nations-League-Begegnungen nominiert hat, waren 15 schon vor einem Jahr bei der EM dabei. Der größte – und vermutlich entscheidende – Unterschied ist der auf der Trainerposition: Joachim Löw heißt jetzt Hansi Flick.
„Hansi hat seine eigene Art, die Dinge anzugehen“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Er ist sehr kommunikativ, kann die Leute begeistern und hat klare Vorstellungen von dem, was er machen will.“ Mit dem Wechsel an der Spitze ist ein neuer Geist in das Team gefahren.
Vor einem Jahr war die Mannschaft vielen ein Rätsel, vielleicht sogar der Mannschaft selbst. Das ist inzwischen anders. „Wofür wir stehen wollen, das ist sehr, sehr klar mittlerweile“, sagt Mittelfeldspieler Leon Goretzka. Nach seiner Einschätzung ist das „absoluter Powerfußball, der uns und den Zuschauern extrem viel Spaß macht“.
Der neue Bundestrainer ist noch unbesiegt
Die Nationalmannschaft, vor einem Jahr träge und seltsam ermattet, verbreitet eine neue Begeisterung für das, was sie tut. Goretzka nennt es „den Spirit, den Hansi sehen will“, echtes Engagement in jeder Trainingseinheit; ein Gefühl der Verantwortung für das große Ganze, die von den Spielern auch über die Lehrgänge mit der Nationalmannschaft hinaus gelebt werden soll.
„Es hat sich das eine oder andere verändert unter Hansi Flick, was auch notwendig war, weil wir einen neuen Weg gehen wollten“, sagt Manager Bierhoff. „Hansi hat einen absoluten Leistungsanspruch.“ Lukas Klostermann berichtet, dass es für ihn in den vergangenen Monaten die eine oder andere Videoschalte mit dem Trainerteam der Nationalmannschaft gegeben habe, selbst wenn gerade keine Spiele anstanden. „Es ist sinnvoll, zwischendurch die Sinne zu schärfen“, sagt er.
Nach einem Dreivierteljahr und bisher neun Spielen unter Flick ist die Nationalmannschaft immer noch ungeschlagen. Acht Siegen zum Start seiner Amtszeit folgte zuletzt ein 1:1-Unentschieden gegen Holland in Amsterdam. Das ist eine schöne Bilanz für den neuen Bundestrainer – aber angesichts der insgesamt mäßigen Qualität der bisherigen Gegner auch kein Grund, gleich auszuflippen.
Es geht gegen Italien, Ungarn und England
Die wirklichen Herausforderungen stehen für die Nationalmannschaft und ihren Trainer erst jetzt in der Nations League an, mit den beiden Begegnungen gegen Europameister Italien (4. und 14. Juni), gegen England (7. Juni) und in Ungarn (11. Juni). „Wir haben schon die Weltspitze im Blick“, sagt Flick. „Nach den Spielen wissen wir ganz genau, wie weit unser Weg noch sein wird.“
Es ist eine nette Fußnote der Fußballgeschichte, dass die Deutschen nicht nur in ihr EM-Quartier zurückgekehrt sind, sondern in ihrer Nations-League-Gruppe auch auf zwei Gegner treffen, mit denen sie es auch vor einem Jahr bei der EM zu tun hatten. Damals konnten sie weder gegen England (0:2), noch gegen Ungarn (2:2) gewinnen. „Aufgrund der vergangenen Jahre kann man nicht behaupten, dass wir in der Weltspitze sind“, sagt Leon Goretzka. „Aber da wollen wir wieder hin. Wir sind auf einem guten Weg.“
Ein Moment fürs kollektive Gedächtnis
Goretzka war es, der während der EM den womöglich einzigen positiven Moment für das kollektive Gedächtnis geschaffen hat. Mit seinem Tor zum 2:2 gegen Ungarn wenige Minuten vor Schluss verhinderte der Münchner das durchaus mögliche Ausscheiden der Deutschen schon in der Vorrunde.
Mindestens ebenso wichtig wie das Tor selbst war der Jubel, der diesem Treffer folgte. Goretzka lief nach dem Ausgleich ungebremst auf die Kurve mit den stiernackigen ungarischen Hooligans zu und konterte ihren Hass auf die moderne westliche Gesellschaft mit einem Herz, das er mit seinen Fingern formte. „Spread love“, twitterte Goretzka am Tag danach. Verbreitet Liebe.
Mit allzu viel Liebe wird er wohl nicht rechnen dürfen, wenn er am Samstag in einer Woche mit der Nationalmannschaft in Budapest antritt. Wie seine Gefühle mit Blick auf dieses Spiel seien, ist Goretzka am Dienstag gefragt worden. In seine Gefühle habe er noch nicht so reingehört, antwortet er. Aber die Erinnerung an das Spiel vor einem Jahr sei eine sehr schöne. Die Geste, mit der er das Land verzückt hat, „kam ein bisschen aus dem Bauch heraus“, berichtet Goretzka.
Vermutlich ist sie in diesem verkorksten EM-Sommer auch deshalb in Erinnerung geblieben. Intuitiv und aus dem Bauch heraus haben die Nationalspieler bei der Europameisterschaft vor einem Jahr nämlich nur selten etwas richtig gemacht.